Mittelland
Kanton Bern

Gegen Reiner Knizia und moderne Trends: Berner Urs Hostettler, Entwickler von Tichu und Anno Domini, im Interview

Anno Domini, Tichu und Co.

Berner Spielautor Urs Hostettler über moderne Brettpiele und Lampenfieber

06.09.2024, 17:57 Uhr
· Online seit 06.09.2024, 15:59 Uhr
Vor wenigen Wochen wurde Urs Hostettler 75 Jahre alt. Als Spielemacher hat er Dauerbrenner wie «Anno Domini», «Tichu» und «Ein solches Ding» entwickelt, er hat den Verlag «Fata Morgana» und den Spieleladen «Drachenäscht» mitgegründet und stand auch als Musiker auf der Bühne. Wir haben mit dem Berner Kulturschaffenden über seine Arbeit, moderne Spiele und eine musikalische Rückkehr gesprochen.
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Today: Sie sind Musiker, Spieleentwickler und Schriftsteller. Wie bezeichnen Sie sich eigentlich selbst?

Urs Hostettler: Ich bin so etwas wie ein Universalgelehrter. Sonst sage ich meistens Autor. Von der Ausbildung her bin ich eigentlich Mathematiker. Es gibt viele Sachen, die mich interessieren – besonders die Fantasie. Auch mit Musik habe ich sehr viel am Hut. Ich bin aber kein besonders guter Gitarrist und auch kein wahnsinniger guter Sänger. Es geht mir mehr um die Texte.

Wie sind Sie überhaupt zum Spielen gekommen?

Ich habe schon als Kind und Jugendlicher viel gespielt. Durch eine Beziehung zu einer Frau, die nicht viel mit dem Spielen anfangen konnte, bin ich mehr auf Poesie und Literatur umgeschwenkt. Erst später bin ich dann wieder auf Spiele zurückgekommen. Mir ist aber klar, dass Spielen ein Zeitvertreib und ein bisschen Verrat am richtigen Leben ist. Das ist bei Spielen so.

Wie entstehen diese verschiedenen Spiele, Texte oder das Buch zum Schweizer Bauernkrieg? Machen Sie das, worauf Sie gerade Lust haben?

Jahrelang ein Buch zu schreiben, macht nicht nur Lust. Mein Buch über den Bauernkrieg ist ein Riesending mit 750 Seiten, daran habe ich zehn Jahre gearbeitet. Für mich ist eine gewisse Tiefe wichtig. Ich vertiefe mich sehr gerne in etwas. Beim Recherchieren entdecke ich immer wieder Neues und dann nehme ich mir wieder etwas anderes vor. Aber ich lasse Projekte nicht einfach fallen. Etwas liegen lassen, nur weil mir etwas anderes gefällt – das mache ich nicht. Ich bin jemand, der die Dinge gerne auch fertig macht und sich durch etwas durchbeisst.

Was ist Ihnen bei solchen Projekten besonders wichtig?

Für mich ist es wichtig, etwas zu machen, das Fantasie braucht – auch Witz ist für mich ein sehr wichtiger Bestandteil. Dabei bin ich dann sehr konzentriert und minutiös. Spiele mit einem riesigen Haufen von Figuren, wo man irgendwelche Siegpunkte sammeln muss, sind aber überhaupt nicht meins. Es ist auch nicht so, dass es mir nur Freude macht, Spiele zu entwickeln, und alles andere Arbeit ist. Auch Texte und Musik machen mir Freude, aber auch da muss man sich manchmal durchbeissen.

Welches Ihrer selbst entwickelten Spiele ist ihr Liebling?

Das kann ich so nicht sagen. Was wir sehr viel spielen, ist Cosmic Eidex, das sich aber gar nicht so gut verkauft hat. Andere Spiele sind mir etwas verleidet – Tichu zu viert spiele ich nach 35 Jahren nicht mehr so gern.

Bei einem Spiel kommt es immer darauf an, mit wem man es spielt. Erstens, mit wie vielen Leuten – an meinem Geburtstag mache ich immer besondere Spiele für um die 20 Leute. Und dann kommt es eben auch sehr auf die Personen an.

Sind Sie immer noch als Spieleentwickler tätig?

Ja, bin ich. Zuletzt ist dieses Jahr die Serie Eco für Anno Domini über Ökologie und Ökonomie erschienen. Die Gesamtserie hat sich mittlerweile über eine Million Mal verkauft. Das ist schön, aber gibt auch zu tun. Am Anfang, also 1998, haben wir gerade fünf Serien miteinander herausgegeben. Jetzt kommt nur so alle zwei bis drei Jahre etwas Neues raus.

Auch die Neuauflagen von alten Serien geben zu tun. Es gibt bei Anno Domini falsche Karten und teilweise veralten sie auch. Als Beispiel: Wann hat zum letzten Mal ein Papst die Stadt Bern besucht? Das war früher Martin V. auf dem Weg nach Konstanz im Jahr 1418. Johannes Paul II. kam 1984 in die Nähe – ich habe schon gebibbert, aber er ging dann nur nach Kehrsatz. Dann konnte ich die Karte noch drin lassen, aber später, 2004, kam er dann doch noch auf die Allmend. Dann musste ich die Frage herausnehmen und ersetzen – Martin V. ist jetzt halt einfach falsch. Das gibt viel zu tun. Wir sind auch dran, ein Online-Anno-Domini zu machen.

Wie hat sich die Brettspielszene in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten verändert?

Die Szene hat sich grundsätzlich verändert. Zuerst haben wir als Liedermacher und Songwriter 1982 den Verlag Fata Morgana gegründet. Die ersten Spiele haben dann Joachim Rittmeyer und ich auch über Fata Morgana herausgegeben. Das haben wir selber finanziert, da wir den Verlag nicht gefährden wollten. Es lief aber sehr gut.

Das Drachenäscht haben wir 1985 gegründet, da wir das Lokal hatten und man gewisse Spiele, beispielsweise solche aus Amerika, in Bern nicht bekommen hat. Wir wollten einen Spieleladen machen, der einfach alles hat. Als dann Computerspiele aufgekommen sind, habe ich mich dafür eingesetzt, dass man diese auch ins Sortiment aufnimmt, aber das wurde abgelehnt.

Seit circa 10 Jahren gibt es jetzt einen Brettspiel-Boom. Sehr viel läuft heutzutage online, über Kickstarter (Anm. d. Red.: Eine Crowdfunding-Plattform zur Finanzierung von Projekten) und mit riesigen Plattformen mit Bewertungen – über diese Entwicklung bin ich aber nicht besonders glücklich.

Was kritisieren Sie denn an der modernen Spielebranche?

Mit einigen neueren Spielen habe ich Mühe. Würfel und Glück sind da völlig verpönt. Oft gibt es Massen von Figuren, Karten und Icons und detaillierte Regeln, deren Kenntnis das Würfelglück ersetzt. Wer die vielen Tricks gut kennt, wird die meisten Siegpunkte sammeln. Doch es gibt auch tolle, originelle neue Spiele, die meist etwas bescheidener daherkommen.

Einige professionelle Spielautoren produzieren Spiele am laufenden Band. Es gibt heutzutage regelrechte Spiele-Fabriken, London ist so ein Hotspot. Da will zum Beispiel eine Firma einen neuen Leuchtwürfel verkaufen, der eine Zahl und eine Farbe anzeigt. Ein angesehener Spielautor (in diesem Fall Reiner Knizia) wird beauftragt, ein einfaches Brettspiel um diesen Würfel herum zu entwickeln. Er macht irgendwas mit Rittern und Schwertkämpfern, das wird international vertrieben, je nach Land auch mit Panzern und Schützen. Eine Neuheit mehr auf dem Markt, leicht verdientes Geld.

So etwas würde ich nie machen. Das ist doch völlig unwitzig. Ich muss nicht jedes Jahr neue Spiele veröffentlichen. In den letzten Jahren sind aber auch tolle neue Spiele mit originellen Spielideen und Szenarien erschienen, insbesondere im Bereich der kooperativen und kommunikativen Teamspiele.

Wie erfolgreich waren Ihre Spiele international?

Meine Spiele sind oft sprachlastig und das macht es schwierig. Bei Anno Domini muss man beispielsweise die Ereignisse nicht nur übersetzen, sondern diese haben in verschiedenen Ländern auch einen anderen Stellenwert. Wenn ich etwa eine Serie über Bern mache, interessiert das in Italien niemanden. Anno Domini wurde aber mehrere Male übersetzt, so gab es in Italien mal etwa fünf Serien.

Das Spiel Kreml wurde auch in Amerika herausgegeben, beim grossen Spielverlag Avalon Hill. Das war genau dann, als Gorbatschow die USA besucht hatte. Kreml war damit eines der ersten kontinentaleuropäischen Spiele in den USA. Tichu als Kartenspiel ist nicht sprachgebunden – das kam überall heraus. Auch in China gab es eine Version und in Griechenland ist es sehr beliebt, dort ist es ein richtiges Volksspiel. Teilweise ist es aber schwer zu sagen, wie gut sich das Spiel insgesamt verkauft, da über Plattformen wie Alibaba von Tichu immer wieder unlizenzierte Kopien angeboten werden. Da gibt es 100'000 Stück für 1 Dollar, lieferbar in einer Woche. Selbstverständlich will sie niemand gedruckt haben.

Auf welche Projekte blicken Sie sonst noch gerne zurück?

Wir haben circa zehn Jahre lang Mystery-Weekends veranstaltet. Das waren Live-Krimis im Hotel, so 12- bis 14-mal im Jahr. In dieser Zeit war das mein Vollzeit-Job, ich war Drehbuchautor, habe wichtige Rollen gespielt und war auch oft Spielleiter. Meistens waren es rund 80 Leute und man musste nicht, wer Schauspieler und wer Gast war – auch das ganze Hotelpersonal hat mitgemacht. Ein modernes Krimi-Dinner ist dagegen langweilig. Das war im ganzen Hotel, auch draussen, und es konnte immer etwas passieren.

Als wir dann den Austragungsort wechseln mussten, wurde es irgendwann zu mühsam. Jedes Mal einen neuen Ort zu finden, ging für uns nicht mehr. Und mit den Krimi-Dinnern kam dann auch das «Kurzfutter» auf. Die waren sehr viel kürzer und brauchten viel weniger Aufwand – und die Leute waren damit oftmals zufrieden.

Am 6. September gibt das Trio Hostettler/Diem/Mentha ein Konzert in der Mahagony Hall. Wann stand Sie zuletzt zu dritt auf der Bühne?

Unser letztes längeres Konzert zu dritt war 1978, also vor 46 Jahren. Zum 50-Jahr-Jubiläum der Mahagony Hall sind wir zu auch zusammen aufgetreten, aber nur etwa 20 bis 30 Minuten. Da bekamen wir auch die beste Kritik, die wir je erhalten haben. Martin Burkhalter, Kulturredaktor beim «Bund», schrieb: «Für die Nachgeborenen war es eine Ehre, das legendäre Trio Urs Hostettler, Martin Diem und Luc Mentha erleben zu dürfen.» Bekommt man eine bessere Kritik als das? Das ist ja wahnsinnig. Vielleicht kommen jetzt noch mehr jüngere Leute.

Das Konzert ist bereits ausverkauft. Gibt es trotzdem noch eine Chance, das legendäre Trio zu hören?

Auszuverkaufen ist für uns natürlich schön. Die Mahogany Hall führt immer noch eine Reservationsliste – wahrscheinlich lassen sie besonders Interessierte doch noch rein – Stehplätze halt.

Unsere Freunde und alten Fans haben wir zur Generalprobe im Schloss Holligen eingeladen. Das wollten wir aber nicht in der Presse propagieren, um keine Gäste wegen Überfüllung zurückweisen zu müssen – schon gar keine von auswärts Angereisten. Das mussten wir dann zum Glück auch nicht. Wir hatten dabei einen vollen Saal mit circa 90 bis 100 Gästen. Wenn es ganz gut läuft, können wir über ein Zusatzkonzert später in diesem Jahr reden.

Wie sieht es nach all diesen Jahren mit Lampenfieber aus?

Nach fast 50 Jahren hat man extremes Lampenfieber. Vor allem, weil man weiss, dass nicht alles perfekt laufen wird. Und für mich ist es auch ein Problem mit den Texten nach so vielen Jahren. Ich habe relativ intensive Texte und bin jetzt schon lange nicht mehr auf der Bühne gestanden. Da wird sicher einiges daneben gehen. Aber ich freue mich, wir bereiten es intensiv vor. Wir werden unser Bestes geben.

veröffentlicht: 6. September 2024 15:59
aktualisiert: 6. September 2024 17:57
Quelle: BärnToday

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