Mittelland
Oberaargau

Das letzte Rennen von Parasportler Heinz Frei: Ein Rückblick

Letztes Titelrennen

Heinz Frei beendet am Samstag seine Karriere als Parasportler

28.09.2024, 12:44 Uhr
· Online seit 28.09.2024, 07:45 Uhr
Heinz Frei (66) bestreitet am Samstag bei der Rad-WM in Zürich sein letztes Rennen um einen Titel. Zeit für den Blick zurück auf eine beispiellose Karriere.
Klaus Zaugg / watson
Anzeige

Als der Unfall sein Leben von Grund auf verändert hatte, habe ihn der Pfarrer einmal gefragt, ob er Suizid-Gedanken habe. Diese Begebenheit mag zeigen, wie tiefgreifend ein Unglück das Leben von Heinz Frei verändert hat. Bei einer Streckenbesichtigung zu einem Berglauf stürzt er im Sommer 1978 auf nassen Untergrund und rutscht einen Abhang hinunter. Er wird mit dem Helikopter geborgen. Im Paraplegiker-Zentrum in Basel erhält er die Diagnose Querschnittlähmung. Heinz Frei ist 20 Jahre alt.

«Nein, ich habe nie Suizid-Gedanken gehabt.»

Der Pfarrer habe ihm dann den Grund für diese Frage erklärt: Solche Gedanken müssten in seiner Situation Platz haben und es wäre verständlich, wenn er solche Gedanken gehabt hätte.

Die Rückkehr ins Leben nach dem Unfall ist nicht einfach: «Der Verlust von zwei Dritteln meiner Körpergrösse hat einfach nur geschmerzt. Ich habe zwei Jahre gebraucht, bis ich die Veränderung einigermassen verarbeitet hatte.» Aber dann sei der wahre Heinz Frei wieder erwacht. Der Heinz Frei, der sich einfach bewegen muss. Der Heinz Frei, der Turner, Langläufer und Bergläufer war, der sich gegen Musikunterricht und für Sport entschieden hat («Ich spiele noch heute kein Instrument»). Der Heinz Frei, der von Oberbipp nach Tenero (230 Kilometer) ins Jugendlager und dann wieder zurück mit dem Velo gereist ist. «Nur durch den Gotthard bin ich auf den Zug umgestiegen.»

Einer der erfolgreichsten Schweizer Sportler der Geschichte

46 Jahre, fast ein halbes Jahrhundert, sind seither vergangen und vor seinem letzten offiziellen Titel-Wettkampf (Handbike-WM) bei der Rad-WM in Zürich kann Heinz Frei auf eine beispiellose Laufbahn zurückblicken. 14 WM-Titel, 35 olympische Medaillen (15 aus Gold), 112 Marathonsiege, die letzte olympische Medaille (Silber) holt er 2021 in Tokio im Alter von 63 Jahren.

Er ist nicht nur einer der erfolgreichsten Schweizer Sportler der Geschichte. Er ist auch ein Pionier, der «seinen» Sport geprägt und entwickelt hat. Wobei: Es ist kein Blick zurück auf eine Karriere. Für den Blick zurück ist es noch viel zu früh. Heinz Frei schaut vorwärts und sagt in der ihm eigenen, humorvollen Art: «Es heisst doch so schön: Mit 66 fängt das Leben erst an …»

Training als Altersvorsorge

Er kümmere sich jeden Tag so zwei bis drei Stunden um seine Altersvorsorge. Mit Altersvorsorge meint er: «Zwei bis drei Stunden Training.» Wohlverstanden: Am Tag. Auch bei garstigem Wetter: «Ich habe im Keller ein Handbike montiert.» Bis zu 500 Trainings-Kilometer pro Woche, 22'000 im Jahr waren es früher. Meist auf anstrengenden Routen über die kleinen Pässe im hügligen bernischen Oberaargau, die Radfahrern geläufig sind und ins Schnaufen und Schwitzen bringen: über die Lueg, die Wynigen Berge bis hinüber zur Fritzenfluh.

Nun hat er sein Pensum reduziert, die Rundreisen durch die Hügel macht er weniger häufig. Aber der Bewegungsdrang ist geblieben. «Termine im Paraplegikerzentrum in Nottwil setze ich wenn möglich so an, dass ich mit dem Handbike hin- und zurückfahren kann.» Gut 50 Kilometer sind es von Oberbipp nach Nottwil. Oder er macht eine «Kaffeefahrt» nach Solothurn. «Dann begleitet mich meine Frau mit dem Fahrrad.» Er sagt, wenn er müsste, würde er nicht trainieren. Er nehme die Anstrengungen auf sich, weil es ihm Freude mache. Disziplin und Training haben es ihm ermöglicht, Selbstbestimmung und Lebensqualität zurückzugewinnen. Das sei ihm in Fleisch und Blut übergegangen und werde ihm im Alter hoffentlich helfen. «Irgendwann werde ich diese Leistungen nicht mehr erbringen können und ich mich von manchen Gewohnheiten verabschieden müssen. Aber nun werden es Veränderungen in kleinen Schritten sein.»

An der Rad-WM in Zürich schliesst sich ein Kreis

Die Bezeichnung wird oft verwendet: Charisma. Es lohnt sich, ganz kurz auf diese Bezeichnung einzugehen. Charismatische Menschen mögen ihre Stärken und Schwächen. Sie haben Visionen, Mut, eine positive Lebenseinstellung und betrachten auch einschneidende Veränderungen als etwas Gutes. Sie lieben das, was sie tun. Sie inspirieren ihre Mitmenschen. Heinz Frei hat Charisma. Wer ihm zuhört, wenn er ruhig, gelassen und doch mit Leidenschaft aus seinem Leben, seiner Karriere erzählt, merkt gar nicht mehr, dass er im Rollstuhl sitzt.

Er sagt, mit der «Abschiedstournee» bei der Rad-WM in Zürich schliesse sich der Kreis. 1984 seien beim Zürich-Marathon zum ersten Mal Rollstuhlfahrer zugelassen worden. Er habe vor dem Sieger das Ziel erreicht, den Siegeskranz bekommen und sogleich sei die Frage aufgetaucht, ob denn eigentlich nicht ihm als Tagessieger das Preisgeld von 5000 Franken zustehe. «Ich habe abgelehnt, es wäre unfair gewesen. Ich konnte bergab ja rollen und mich erholen.» Die logische Konsequenz: Die Rollstuhlfahrer bekommen ihre eigene Kategorie.

Einen Tag nach dem letzten Radrennen läuft er den Marathon in Berlin

Heinz Frei wäre nicht Heinz Frei, wenn er Ende September einfach so an der Rad-WM teilnehmen würde. Das Rennen in Zürich wird am Samstag, dem 28. September, ausgetragen. Am Sonntag, dem 29. September, geht der 50. Berliner Marathon über die Bühne. 35 Mal war er in Berlin am Start, 20 Mal hat er gewonnen und nun ist er zum Jubiläums-Marathon eingeladen worden. Also fliegt er am Samstagabend nach dem Rennen in Zürich nach Berlin und wird an den Start gehen. Er erzählt das nicht, um Eindruck zu machen. Vielmehr freut er sich in seiner ihm eigenen Art, dass dieses logistische Kunststück möglich ist. Er hat wieder eine Herausforderung gemeistert.

Heute sind Rollstuhlfahrer längst integriert in die Marathonläufe. Mit eigener Wertung und mit Preisgeld. Heinz Frei sagt, ein international erfolgreicher Athlet könne im Jahr bis zu 200'000 Franken Preisgeld einfahren. Dieses Beispiel mag zeigen, welche Entwicklung der Rollstuhlsport auch sportpolitisch und wirtschaftlich gemacht hat. Bis hin zur vollumfänglichen Integration in die Olympischen Sommer- und Winterspiele.

Enorme Entwicklung im Parasport

Es ist eine Entwicklung, die Heinz Frei ganz entscheidend auch auf dem Gebiet der Technik beeinflusst hat. Noch zu Beginn der 1980er-Jahre konstruierte, schweisste und baute er seinen Rennrollstuhl mit Kollegen. Heute sind High-Tech-Geräte im Einsatz, die gut und gerne 40'000 Franken kosten.

Ein Wachstum, das ihn mit Freude erfüllt, aber auch ein wenig Sorgen macht. Geld und Prestige ist in «seinen» Sport gekommen und er sagt, es sei wichtig, gewisse Auswüchse einzudämmen und nimmt kein Blatt vor den Mund. Wie es eben auch seine Art ist («Man kann auch mit einem gebrochenen Rückgrat Rückgrat haben.»)

Auch im Parasport wird getrickst

Er spricht in diesem Zusammenhang von «Klassifikationsdoping.» Stark vereinfacht erklärt: Es gibt verschiedene Stufen der Beeinträchtigung durch Querschnittlähmung, die in entsprechenden Kategorien berücksichtigt werden. Ähnlich wie Gewichtsklassen im Boxen. «Das führt inzwischen dazu, dass sich Athletinnen oder Athleten in eine Kategorie mit grösserer Beeinträchtigung mogeln und dann dort dominieren.» Eine gewisse «Vetternwirtschaft» sei nicht zu übersehen und es gebe im Streben nach Geld, Ruhm und nationalem Prestige ungerechtfertigte Zuordnungen zu den einzelnen Kategorien.

«Es ist wichtig, dass bei diesen Einteilungen sorgfältiger und unabhängiger vorgegangen wird.» Auch der Breitensport liegt ihm am Herzen. Weil der Sport Mut mache und eine grosse Hilfe bei der Rückkehr ins Leben sei und helfe, die Selbständigkeit zurückzugewinnen. «Wenn ich regelmässig trainiere, dann fällt es mir auch leichter, am Leben teilzunehmen, mein Haus zu verlassen oder spontan eine Reise zu machen.»

Grosse Ehre in Oberbipp und Etziken

Heinz Frei ist mit Rita verheiratet und hat inzwischen zwei erwachsene Kinder. Er lebt in seinem Haus im bernischen Oberbipp, einem Dorf mit knapp 2000 Bewohnenden am Jura-Südhang. Wenn sich die Nebel lichten, schweift der Blick von hier aus über das Mittelland zu den Schneebergen des Oberlandes. Welche Wertschätzung ihm entgegengebracht wird, zeigt sich daran, dass der Bahnhofplatz in Oberbipp «Heinz-Frei-Platz» heisst und im nahen Etziken trägt ein Weg seinen Namen.

Bis 2015 wohnt Heinz Frei in Etziken und dann bekommt er die Möglichkeit, in sein gut zehn Kilometer entfernte Heimatdorf Oberbipp zurückzukehren. Dorthin, wo er einst als Sohn eines Garagisten aufgewachsen ist. Er kann ein bereits rollstuhlgängiges Haus kaufen. Wegziehen aus dem Dorf, wo er zum Ehrenbürger ernannt worden ist, fällt ihm nicht leicht. Und er findet eine salomonische Lösung: Eines seiner Kinder übernimmt sein Haus in Etziken. Die Familie Frei bleibt am Ort, die Kirche im Dorf.

Scan den QR-Code

Du willst keine News mehr verpassen? Hol dir die Today-App.

veröffentlicht: 28. September 2024 07:45
aktualisiert: 28. September 2024 12:44
Quelle: watson

Anzeige
Anzeige
32today@chmedia.ch