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C'est ouf! Die französische Sensationswahl in xx Punkten

Politik

C'est ouf! Die französische Wahl-Sensation in 5 Punkten

· Online seit 08.07.2024, 08:49 Uhr
Frankreich wählt neu und alles erwartet einen grossen Triumph der radikal Rechten. Doch es kommt genau umgekehrt: Die Linken werden stärkste Kraft. Präsident Emmanuel Macrons Lager schneidet besser ab als gedacht. Die französische Sensationswahl in der Übersicht.
Nico Conzett / watson
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Darum geht es

In Frankreich stand am Sonntag die zweite und letzte Runde der Parlamentsneuwahlen an, die von Präsident Emmanuel Macron kurzfristig angeordnet wurden, nachdem sein Lager bei den Europawahlen Anfang Juni eine herbe Niederlage einstecken musste.

Wie bei den Europawahlen schien das radikalrechte Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen und dem Parteivorsitzenden Jordan Bardella auf dem Weg zu einem grossen Erfolg. Das prophezeiten die Zwischenstände nach den Abstimmungen der Vorwoche.

Doch die Rechten müssen eine grosse Enttäuschung hinnehmen: Zwar gewinnt das RN gegenüber der letzten Legislatur viele Sitze (siehe Grafik), doch von der anvisierten und erträumten absoluten Mehrheit sind die Rechtspopulisten weiter entfernt als die französische Fussballnationalmannschaft von begeisternden Auftritten bei der Europameisterschaft.

Noch schwerer wiegen dürfte für die RN-Leute, dass ausgerechnet der politische Erzfeind entgegen der Erwartungen Wahlsieger wird: Das linke Bündnis Nouveau Front populaire (NFP) holt die meisten Parlamentssitze, nach aktuellen Hochrechnungen deren 182.

Präsident Macrons Ensemble-Lager verliert zwar, aber weniger als prophezeit. Nach aktuellem Stand kommt Ensemble auf 168 Sitze (bisher 250). Ein weiterer Tiefschlag für das RN: Der massiv gescholtene Macron schafft es mit seinen Verbündeten damit sogar noch vor die Rechtspopulisten (143 Sitze, bisher 88) und bleibt immerhin zweitstärkste Kraft im Parlament. Die absolute Mehrheit von 289 Sitzen dürfte keine der Gruppierungen erreichen.

Wie kam der Überraschungssieg zustande?

Das Ergebnis kommt vollkommen überraschend. Noch eine Woche zuvor sahen Le Pens Rechte wie die sicheren Sieger aus, träumten gar von der absoluten Mehrheit, die ihnen die Machtübernahme im Land ermöglicht hätte.

Dass es nun komplett anders kam, scheint vor allem zwei Faktoren geschuldet: Frankreich verzeichnete die höchste Wahlbeteiligung seit über 25 Jahren. Das macht deutlich, dass eine grosse Mehrheit der Französinnen und Franzosen eine Rechtsaussen-Regierung nach wie vor ablehnt. Also auch viele jener Menschen, die der Urne in den vergangenen Jahren für gewöhnlich fernblieben.

Faktor zwei war die sehr unübliche Allianz zwischen den Linken und Macrons Mitte-Lager. Um sich in Wahlkreisen, in denen drei Kandidaten in die zweite Runde kamen, nicht gegenseitig Stimmen wegzunehmen und dem RN so lokal zum Sieg zu verhelfen, zogen sich etliche Kandidaten der Linken und der Liberalen zurück. Ihre Wählerschaft riefen sie dazu auf, in jedem Fall gegen das RN zu stimmen.

Das voraussichtliche Endergebnis zeigt: Die Strategie ging auf. Der Wille, eine rechte Regierung zu verhindern, scheint bei vielen Menschen grösser gewesen zu sein, als die Skrupel, für einen gemässigten politischen Gegner zu stimmen.

Die in der Schweiz wohnhaften Französinnen und Franzosen hielten derweil Macron die Treue und wählten erneut den bisherigen Abgeordneten Marc Ferracci. Ferracci ist ein Freund und war Trauzeuge von Präsident Macron. Er erhielt 34'771 Stimmen, wie vorläufige Zahlen des französischen Innenministeriums zeigten. Die Kandidatin der Linken und Mitglied der Stadtgenfer SP, Halima Delimi, erhielt demnach 23'687 Stimmen.

Das sind die Reaktionen

Das überraschende Ergebnis hat im In- und Ausland für Reaktionen gesorgt. Eine Übersicht gibt es hier:

Innenpolitisch relevant ist derweil vor allem auch, dass der bisherige Premierminister Gabriel Attal seinen Rücktritt bei Präsident Macron eingereicht hat (mehr beim letzten Punkt).

Das Wahlergebnis sorgte auch für unschöne Szenen. In Städten im ganzen Land kam es in der Nacht bei Kundgebungen zu Ausschreitungen. In Paris versammelten sich Tausende Menschen auf der Place de la République im Zentrum der Hauptstadt, um den Sieg des Linksbündnisses zu feiern. Dabei geriet ein Teil der Demonstranten nach Medienberichten mit Ordnungskräften aneinander, die daraufhin Tränengas einsetzen. Barrikaden aus Holz wurden in Brand gesetzt. Auch in Lille, Rennes und Nantes kam es zu Auseinandersetzungen.

Aus der Schweiz reagierte die SP auf den Wahlerfolg des NFP. Das Ergebnis sei ein wichtiges Signal an Europa, da es zeige, dass eine vereinigte Linke die Demokratie in gegen die extreme Rechte zu verteidige vermöge.

Auch andere linksorientierte Kräfte verschiedener Länder der Welt beglückwünschten ihre französischen Gleichgesinnten. So zum Beispiel der brasilianische Präsident Lula:

Sehr prägnant formulierte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk seine Glückwünsche im Hinblick auf die Nähe von Marine Le Pens RN zu Russland und Wladimir Putin:

Was bedeutet das Resultat für Frankreich?

So gross die Freude auf linker Seite sein mag, dass ein Grosserfolg des RN verhindert werden konnte, so sehr ist ungewiss, wie es mit Frankreich nun weitergeht. Die Grande Nation ist so tief gespalten wie lange nicht mehr.

Eine Mehrheit wird keines der Lager im Parlament erreichen. Dieses gewinnt somit an Bedeutung: Es wird intensiver Debatten und Verhandlungen brauchen, um politische Anliegen durchzubringen. Die Gefahr, dass vieles blockiert wird, ist gross. Das französische System ist auf eine Mehrheiten-Politik ausgerichtet: Zu verhandeln, Bündnisse in einzelnen Sachfragen zu schmieden und Kompromisse zu finden, ist keine Stärke der französischen Politik.

Wie geht es nun weiter?

Nachdem Premierminister Attal seinen Rücktritt eingereicht hat, ist es an Macron, einen Nachfolger zu bestimmen – sofern er den Rücktritt seines Premierministers annimmt.

Laut der Verfassung kommt der Premierminister für gewöhnlich aus der Fraktion der stärksten Partei, also aus dem NFP. Doch einfach wird diese Wahl nicht, denn selbst das linke Lager ist sich keineswegs so einig, wie es das unter Umständen am Sonntag bei den Wahlen den Eindruck zu erwecken vermocht hatte.

Bereits in Stellung gebracht für das Amt des Premierministers hat sich der linksradikale Jean-Luc Mélenchon. Er sieht sich selbst als den besten Kandidaten. Eine Einschätzung, die nur wenige teilen, denn Mélenchon ist selbst bei den Linken höchst umstritten. Er äussert sich immer wieder europaskeptisch und klar propalästinensisch.

Valablere Kandidaten wären der ins Parlament gewählte Ex-Präsident François Hollande, um dessen Verfügbarkeit es aber Fragezeichen gibt oder dann Sozialisten-Anführer Raphaël Glucksmann, der bei den Europawahlen als Spitzenkandidat ins Rennen ging. Glucksmann gilt als konziliant und hat im Gegensatz zu anderen linken Spitzenpolitikern auch durchdringen lassen, dass er in Sachfragen bereit wäre, mit Macrons Lager zusammenzuarbeiten.

Klar ist, dass Macron bei der Ernennung eines linken Premierministers an Macht einbüssen würde, da dieser in Frankreich besonders in der Innenpolitik viele Befugnisse hat.

Auch auf Regierungsebene gibt es viele Fragezeichen. Für die Linken ist klar, dass sie nun an der Regierung beteiligt werden müssen. Ob sie alleine eine Minderheitsregierung auf die Beine stellen können, ist ungewiss. Die anderen Fraktionen könnten eine solche Regierung per Misstrauensvotum stürzen.

Die Linken könnten auch versuchen, von den Mitte-Kräften Unterstützung zu bekommen – entweder als eine Minderheitsregierung mit Duldung oder in einer Art Grossen Koalition. Angesichts der gegensätzlichen politischen Ausrichtungen ist allerdings nicht abzusehen, ob dies gelingen könnte.

Sollte keines der Lager eine Regierungsmehrheit finden, könnte die aktuelle Regierung übergangsweise die Amtsgeschäfte führen oder eine Expertenregierung eingesetzt werden. Frankreich droht in einem solchen Szenario politischer Stillstand. Eine erneute Auflösung des Parlaments durch Macron und eine Neuwahl sind erst im Juli 2025 wieder möglich.

Mit Material der Nachrichtenagenturen SDA und DPA

veröffentlicht: 8. Juli 2024 08:49
aktualisiert: 8. Juli 2024 08:49
Quelle: watson

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